Felix Wiese
Wer heilt die Welt?
(Replik auf den Text "Erste Hilfe für Europa" von Jürgen Habermas, der in "DIE ZEIT", Nr. 49, 29.11.2007 veröffentlicht wurde)
Wer den USA Paroli bieten will, muss selbst den Willen zur Weltmacht besitzen – wird aber darüber den Willen der Gesellschaft links liegenlassen.
Natürlich ist es nicht wirklich überraschend, dass die Intention des Textes, den Jürgen Habermas kürzlich bei der SPD mündlich vorgetragen hat, auch nach der zweiten und dritten Lektüre nicht eindeutig erkennbar wird: Geht es ihm in erster Linie um eine grundständige Kritik der EU und ihrer undemokratischen Institutionen – oder darum, einen irgendwie handlungsfähigen (und im schlimmsten Falle nur dazu auch irgendwie legitimierten) weltpolitischen Gegenpol zur USA zu schaffen?
Nach der vierten Lektüre lässt sich allmählich der Verdacht erhärten, dass der alternde Klassiker der Parlamentarismuskritik hier all seine politphilosophische Integrativkraft aufbietet, um diese beiden Grundanliegen irgendwie sinnvoll miteinander zu verknüpfen – nicht zuletzt wohl auch, um nahe zu legen, dass sowohl seine normativ-intellektuellen Ansprüche an die demokratische Verfasstheit des Lebensraums Europa/EU als auch der weltpolitische Gestaltungsanspruch der aufs Regieren orientierten SPD ein- und derselben Quelle entsprungen sein könnten: politisch-ethischer Vernunft. Hinter verschlossenen Türen des SPD-Kulturforums ist das maximal noch gut gemeint, draußen in der Realität ein hochgradig gefährliches Unterfangen.
Die undemokratischen EU-Büros
Ähnlich wenig revolutionär wie die Forderung nach einer international gestärkten, politisch einheitlich agierenden EU, die die US-Administrationen [besser] von zukünftigen Alleingängen abhalten kann, ist inzwischen auch die Kritik bürokratischer und undemokratischer EU-Institutionen: Der ‚linke’, ökologisch orientierte SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer geht in seinem eigens veröffentlichten Buch „Die Politiker“ (Antje Kunstmann Verlag, München 2003)ausführlich auf etliche entsprechende Vorgänge in den Brüsseler Verwaltungsgebäuden ein. Bundespräsident a.D. Roman Herzog (CDU) geht in einem gemeinsamen Beitrag mit Lüder Gerken für die Welt am Sonntag, 13.1.2007, sogar so weit, dass die EU nicht nur selbst undemokratisch sei: Durch den Verbindlichkeitsgrad, mit dem ihre Institutionen den nationalen Gremien Richtlinien „aufs Auge drücken“ könne, gefährde sie sogar deren demokratische Legitimiertheit. Habermas hatte seinerzeit überlegt, dass parlamentarische Demokratie unter der Prämisse einer wegbrechenden kritischen Öffentlichkeit nicht mehr wirklich demokratisch funktionieren könne: Wenn die Bürger_innen das politische Geschehen nicht mehr überwachen, hindert Parlamente und Regierungen nichts mehr daran, deren Interessen maximal noch oberflächlich zu verfolgen und ansonsten ihren eigenen nachzugehen (zu denen dann wohl auch Machterhalt und –ausbau gehören). Parlamentarische Demokratie ist also insbesondere vor dem Hintergrund einer um sich greifenden sog. „Politikverdrossenheit“ nicht hinreichend demokratisch – und nun teilen uns ausgerechnet Herzog und Gerken mit, dass wir noch nicht einmal von einer solchen reden können…?
Habermas formuliert in schönster Entsprechung zu seinen Theorien von dereinst den Anspruch, dass sich supranational eine Art europäische Öffentlichkeit bilde; bleibt dies aus (wonach es recht unzweideutig aussieht, ist es doch schon um nationale Öffentlichkeiten extrem schlecht bestellt), so bedeutet der Kompetenzzuwachs des EU-Parlaments keinen Zuwachs an Demokratie. Auch Habermas dürfte klar sein, dass eine solche abstrakte EU-Öffentlichkeit, ließe sie sich überhaupt irgendwie konstituieren, zunächst noch in einen hinreichend verbindlichen Zusammenhang mit ‚EU-Entscheidungen’ zu bringen wäre – und dass dies, wo es schon in der mittelkleinen BRD der vergangenen Jahrzehnte immer weniger geklappt hat, in der großen EU 2007 praktisch unmöglich ist.
Ziele, Mittel, Wege – Erweiterung, Demokratisierung, Vertiefung?
Verwunderlich ist nun, dass Habermas diesem so erwartbaren wie berechtigten ersten Kritikpunkt sofort einen zweiten zur Seite stellt, und zwar unter dem vagen Stichwort „Zielkonflikt“. Gemeint ist: Wozu wollen wir die EU eigentlich einsetzen, wenn sie fertig gebastelt ist? Wohin geht’s weiter?
Ähnlich merkwürdig ist der Zusammenhang, der zur EU-Erweiterung hergestellt wird. Es entsteht leicht der Eindruck, die Erweiterung müsste zunächst anhalten, damit die (demokratisierende?) Vertiefung einsetzen kann. Richtig ist, dass in dem EU-Erweiterungsprozess, wie er zurzeit organisiert wird, europäische Machteliten nationale Machteliten in sich aufsaugen und so nur Verlagerungen innerhalb der bereits bestehenden Machträume (und zwar: Zentralisierung in Richtung des europäischen!), nicht aber tatsächliche europäische Integration und Fortschritt erwirkt werden. Statt weiter so zu erweitern, wäre eine Vertiefung in Richtung partizipativer Demokratie sinnvoll – die bei der fortgesetzten Erweiterung dann produktiv wirken und neuen wie alten Mitgliedsländern mit gutem Beispiel vorangehen könnte.
Schön wär’s. Dieser Vertiefungsgedanke ist zwar recht hübsch, birgt aber – wenn er denn so gemeint ist - bei genauerem Hinsehen den Denkfehler, einen Wissensvorsprung zu den zu demokratisierenden Ländern etablieren zu wollen. Die zentralistische EU und die Menschen hinter ihren Schreibtischen werden schwerlich umhin kommen, diesen Wissensvorsprung auch als Machtressource für sich auszunutzen. Demokratie funktioniert nicht ohne Subsidiarität. Habermas sollte das wissen.
Die EU braucht in ihrer aktuellen Verfassung (oder in irgendeiner, die sie realistisch absehbar erreichen könnte) der restlichen Welt keine guten Ratschläge zu erteilen. Dies zu ändern, darf sicher nicht das vordergründige Motiv für das Verlangen nach ihrer Demokratisierung sein: Zum Einen, weil wir sehen, was dann an Zentralismus auf uns zukommt – zum anderen, weil Großmannssucht wohl auch (oder gerade) einem geeinten Europa schlecht anstünde.
Eine Macht wird eine Machtelite – viele Mächte werden: eine Machtelite
Das Bestreben, dass das Weltgeschehen nicht von einer Machtelite bestimmt werde, die es entsprechend ihres Interesses (zu dem dann zwangsläufig auch immer Sicherung und Ausbau ebendieser Macht gehören) zu bestimmen versucht, ist als solches durchaus berechtigt. Aber selbst wenn es nicht, wie im Moment, die eine Super-Macht-Nation mit globalem Hegemonieanspruch gibt, die sich routinemäßig über die Ansprüche anderer Mächte hinwegsetzt, sondern auch, wenn sich die wesentlichen weltpolitischen Handlungen aus Verhandlungen mehrerer (nationaler oder „noch größerer“) Mächte ergeben, sind es letztlich deren Interessen, die diese Handlungen motivieren. Und ähnliche Akteure haben ähnliche Interessen – und werden sich daher, statt sich den von ihm sicher korrekt benannten fünf dringenden globalen Problemen zuzuwenden, in vielen Feldern der von Habermas erstrebten „Weltinnenpolitik“ nur zu einig sein. Denn die Akteure, die hier aufgerufen sind, eine solche zu etablieren und dann vermutlich auch zu exekutieren, sind die nationalstaatlichen Regierungen insbesondere der mächtigeren Länder bzw. etwa der EU-Apparat. Die Institutionalisierung einer multilateralen Weltinnenpolitik, wie Habermas sie vorschlägt, hieße also nicht zwangsläufig, dass die praktizierte Politik legitimer wird – im Gegenteil: Es handelte sich nach wie vor um Machtpolitik, dann aber in eine gefährliche neue Normativität gewandet. Denn warum sollten fünf oder siebzehn Supermächte, die zusammen am Verhandlungstisch sitzen und Entscheidungen über weltpolitisch relevantes Geschehen treffen, nicht ähnliche Hegemonieinteressen entwickeln, wie sie die USA in ihrer selbst auserwählten Vorreiterinnenrolle zurzeit geltend zu machen versucht? Ist es nicht vielmehr so, dass sie – durch ihre ihnen gemeinsame Macht auf der einen, ihre ihnen gemeinsamen Macht-Interessen auf der anderen Seite der Medaille – wieder zu einer Machtelite, zu einer Supermacht verschmelzen? Natürlich: Je weiter der Kreis der Entscheidungsträger_innen „nach unten“ ausgeweitet wird, desto kleiner wird die Überschneidung gemeinsamer Machtinteressen und desto größer wird der Druck, unter gegenseitigem Argwohn und öffentlicher Beobachtung das [auch normativ] Richtige zu entscheiden. Natürlich: Ein repräsentativ für eine sog. „Weltinnenpolitik“ zuständiges Gremium würde anders beobachtet werden als eine US-Administration oder ein Weltsicherheitsrat. So würde ihm aber auch eine Legitimität beigemessen werden, die ihm eigentlich nicht zusteht. Und eine Weltöffentlichkeit etablieren zu wollen, die es fertig bringt, dass die Weltpolitik dem Willen der Weltgesellschaft (sofern vorhanden) folgt, erscheint vor dem Hintergrund der nunmehr jahrzehntelang tradierten Machtlosigkeit der nationalen Öffentlichkeiten wirklich vollends illusorisch.
Würde die Welt zum jetzigen Zeitpunkt einer repräsentativ legitimierten und auf Effektivität koordinierten „Innenpolitik“ aus Vertreter_innen der Regierungen (!) der USA, Russlands, der EU (selbst einmal angenommen, in einem fernen idealtypisch harmonisierten und demokratisierten Zustand), Chinas, Indiens und weiterer Mächte ausgesetzt, so würden sich Freiheit und Wohlstand wohl bald in jedweder Form vollends eine andere suchen. Es ist sicher keine Lösung, wenn der – den Lebensrealitäten seiner Bürger_innen allemal in weite Ferne entrückte – EU-Apparat sich selbst und ihren Mitgliedsmächten mal eben Demokratie verordnet, um dann als gestärkte und geeinte Kraft die zweite erste Geige auf der Weltbühne zu spielen. Ein Referendum über die Zukunft der EU ist sicher richtig, geht aber ebenso sicher nicht weit genug. Zunächst müssen sich die konkreten Lebensräume, sprich v.a.: Städte und Gemeinden der EU und anderswo nachhaltig demokratisieren – erst dann können die darüber liegenden Machträume demokratisiert und so als abstrakte Lebensräume erschlossen werden.